Heiligabend in Mezzocorona

Beidseitig säumen noch nicht ausgewachsene Linden die Einkaufsstraße in dem Vorort unserer Nachbarstadt. Einmal in der Woche fahre ich diese Strecke. Heute schmücken weihnachtliche Lichterketten die Kronen der Bäume, aber die grünen Blätter verschlucken einen großen Teil des Lichtes. Bäume in vollem Grün am Abend des 21. November - da kann ich mir weiße Weihnacht in sechs Wochen einfach nicht vorstellen.

Dort, wo ich geboren bin - in Mezzocorona im Alto Adige - lag am 21. November Schnee, und zwar in jedem Jahr, mal mehr oder weniger hoch, aber er war da. Schnee gehörte zum November wie die Weinlese zum September. Für meinen Vater Antonio war das Wetter nur Thema, wenn er einen Außenanstrich auszuführen hatte, und in jedem Jahr am 24. Dezember. Beim Frühstück prüfte er den Himmel und stellte Betrachtungen darüber an, wie weit er mit dem Wagen in den Berg fahren konnte, um den Weihnachtsbaum zu holen. Wenn der Himmel verhangen war und die Luft nach Schnee roch oder es gar schneite ohne Aussicht auf Besserung, sagte er auch schon mal, ganz unweihnachtlich, porcamiseria, Schweinerei. Gegen Mittag stieg er in den alten Fiat 500 und fuhr los. Etwa eineinhalb Stunden später war er zurück, mit offenem Rolldach, aus dem die Spitze einer Tanne nach oben herausragte.

Wir wohnten zu der Zeit noch im Casa Grande, einem Mietshaus direkt im Zentrum von Mezzocorona an einem großen Platz, der bis zum Ersten Weltkrieg Kaiser-Franz-Joseph-Platz und danach Piazza Vittorio Emanuele hieß und in meiner Kindheit weniger provokativ Piazza San Gottardo. Im Casa Grande gab es keine abgeschlossenen Wohnungen. Jede Familie bewohnte die benötigte Anzahl von Räumen auf einem gemeinsamen Flur, neben- einander und gegenüber, und einen Keller hatten wir auch nicht, wo wir den Weihnachtsbaum hätten abstellen können. So musste der Baum  die verbleibenden Stunden bis zu seiner Verwendung im Auto bleiben. Wenn es schneite, deckte mein Vater die Öffnung im Wagendach mit Pappe ab, obwohl er ansonsten recht nachlässig war, was den Wagen anbetraf.

Gegen vier Uhr am Nachmittag stand ich mit meinen Brüdern Pietro und Ulrico auf der Piazza San Gottardo und wartete auf den Lastwagen von Guiseppe Manzoni. Der Fuhrunternehmer bekam in jedem Jahr von der Gemeinde den Auftrag, den großen Weihnachtsbaum zur Piazza zu schaffen. Das Aufstellen des Weihnachtsbaumes war ein Schauspiel, zu dem sich viele Leute auf der Piazza versammelten. Für uns Kinder besaß der Baum riesenhafte Ausmaße. Mit dicken Seilen und vielen lauten Kommandos wurde er von den Gemeinde- arbeitern in das vorbereitete Loch in das Pflaster gehievt und dort festgekeilt. Dann wurde ihm eine Kette aus Glühbirnen umgelegt, was wiederum Anlass zu Diskussionen zwischen den Arbeitern und den Zuschauern um die gleichmäßige Verteilung der Lichter gab, und zum Schluss heftige Vorwürfe, weil die Glühbirnen nach dem Anschluss an das Stromnetz nicht leuchten wollten. Lag es an einer defekten Birne in der Reihe oder am Kabel? Mein Bruder Pietro, der mir drei öffentliche Weihnachtsbäume voraus hatte, wettete in einem Jahr mit mir, ob die Glühbirnen sofort leuchten würden, und ich verlor unvorsichtiger- weise ein Spielzeugauto, einen Lamborghini aus Zinkdruckguss. Nach meiner bisherigen Erfahrung hatte noch jede Lampe funktioniert, wenn sie mit der Steckdose verbunden wurde. Aber, wie immer war die Lichterkette des großen Weihnachtsbaumes auf der Piazza nach dem Abnehmen am Fest der Heiligen Drei Könige achtlos beiseite gelegt und erst am Heiligabend wieder hervorgeholt worden. Wie immer wurde Vito Cagnoni gerufen, der Inhaber eines Elektroinstallationsbetriebes. Gemessenen Schrittes kam er aus der gegen- überliegenden Via Scarlatti, die Werkzeugtasche an der Hand. Wenn die Lampen dann endlich leuchteten, klatschten die Leute und riefen: Bravo, Vito!

Eine Viertelstunde später war der Platz wieder menschenleer.

Inzwischen hatte mein Vater den Weihnachtsbaum aus dem Fiat ins Wohnzimmer geschafft und dort in einem Ständer befestigt. Wenn meine beiden Brüder und ich von der Piazza zurückkehrten, herrschte bei uns häufig eine wortkarge Stimmung. Erst zur Bescherung wurden die Eltern wieder freundlicher. In späteren Jahren, als wir beim Einstielen des Baumes helfen durften, wurde uns der Grund klar. Mein Vater suchte gleichmäßig gewachsene Bäume aus, aber sie hatten meist einen kleinen Makel. Es war nicht einfach, unter den verschneiten Bäumen in der Schonung einen zu finden, der die Idealform eines Kegels erfüllte und in der Mitte einen gerade gewachsenen Stamm besaß. Einen Weihnachtsbaum schief einzustielen wäre gegen die Ehre eines Antonio Panettiere gegangen, der am liebsten sein Tapezierlot eingesetzt hätte. So gab es zwischen ihm, der die Senkrechte bestimmte, und den Helfern, die an den Schrauben des Ständers drehten und dabei die Spitze nicht im Auge behalten konnten, schnell ungeduldige Wortgefechte. Meine Mutter Lucia, die trotz ihres schönen italienischen Namens aus Deutschland stammte, verzog sich dann mit einer Miene, als sei sie die Ursache allen Unglücks, über den Gang in die Küche.

Wie ein deutscher Weihnachtsbaum zu schmücken war, hatte mein Vater von meiner Mutter gelernt. In seiner Genauigkeit übertraf er spielend jeden deutschen Pedanten. Als wir später mithelfen durften, leitete uns mein Vater an. Löcher in der Symmetrie, die durch nicht vollkommen gleich- mäßig gewachsene Zweige  entstanden waren, kaschierte er mit Glaskugeln, zu lange Zweigspitzen wurden mit der Rosenschere abgeknipst. Die Lamettafäden hängte er einzeln in die Zweige; in unterschiedlicher Dichte dienten sie nicht nur als Baumschmuck, sondern zum Verdecken von Makeln, die nur meinen Vater störten. Auch auf diese Art liebte Antonio seine Lucia - er wollte ihr, fern von Zuhause, den schönsten Weihnachtsbaum auf Erden schenken.

Wenn die Kerzen brannten und die silbernen Kugeln und das Lametta im Halbdunkel glitzerten und unsere Herzen beleuchteten, stimmte meine Mutter mit heller Stimme die Weihnachtslieder ihrer Heimat an. Wir Kinder vergaßen für eine Weile unsere Geschenke und sangen die Lieder  inbrünstig mit, weil es deutsche Lieder waren; das hob uns von den italienischen Kindern ab, in deren Familien Weihnachten nicht gesungen wurde. Mein Vater hörte still und zufrieden zu und rauchte eine der wenigen Zigaretten, die er sich täglich gönnte.

Wenn wir mit dem Singen begannen, kamen bald unsere Nachbarn. Sie füllten das Wohnzimmer und hörten andächtig zu und bestaunten unseren Weihnachtsbaum. Wenn wir geendet hatten, beteuerten sie wie im Jahr vorher, wie schön diese deutsche Tradition sei, Weihnachten mit einem selbst geschmückten Baum im Wohnzimmer zu feiern und Lieder zu singen. Zum Abschied nahmen sie meine Eltern in den Arm und nannten meine Mutter carissima, womit sich einige hitzige Wortgefechte des Jahres erledigt hatten.

Heute ist Weihnachten ohne einen Weihnachtsbaum auch in Mezzocorona nicht mehr denkbar.

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